Brief von Rosemarie

Lieber, alter Junge,

heute kommst Du kurz weg. Schule, Englisch, Lektion für den Schulratshelfer, Haushalt (1%) – das ist genug! Mir brummt der Kopf, aber es macht Spaß. Und viel Arbeit ist die einzige Medizin gegen die große Sorge um meinen Kameraden, von dessen Leben ich so gar nichts weiß.

Ich habe jetzt ausprobiert, daß ich akustische Eindrücke sehr gut rekonstruieren kann. Da stelle ich mir oft Deine Stimme vor. In der Erinnerung erscheint sie mir ungeheuer lebendig. Ich glaube, es kommt daher, daß ihr größere Unterschiede in der Tonlage kennt u. viel rascheren Übergang von einer zur anderen.

Nächste Woche will die alte Klara Schlegelmilch zu mir kommen, um mir zu helfen. Du kannst sie nicht leiden, aber ich freue mich doch, einen so hilfreichen Menschen in der Wohnung zu haben. Und wenn sie mich nicht gerade baden u. füttern will, wie sie das von früher gewöhnt ist, wird es ganz gut gehen. So vergeht auch die Zeit bis zum 14. schneller.

Eben habe ich Aufsätze meiner 13jährigen korrigiert u. dabei teils gestöhnt, teils gelacht. Die Antike ist für manche noch ein Buch mit 7 Siegeln. „Niobe, eine Frau von 14 Kindern“ ist gar nichts. Da sollst Du Doris Mäcke lesen! „Achill trat mit allen seinen Kriegern aus.“ (Soll heißen – er kämpfte nicht mehr mit). Und Alice Tietze läßt den Völkerfürsten Agamemnon sagen: Wozu soll ich die Chryseis rausgeben? Die gefällt mir besser als meine Frau!“ Recht hat Alice Tietze freilich. Aber für mich ist es manchmal gar nicht leicht, diese Klippen der Homerlektüre zu umschiffen. Besonders Zeus stellt in dieser Beziehung ein schwieriges Problem dar.

Vielleicht wunderst Du Dich, daß ich so vergnügt schreibe. Ach, Georg, ich will den Kopf nicht hängen lassen, weil ich weiß, Du kannst es nicht leiden. Hoffentlich machst Du Dir nicht allzu viel Sorgen.

Dr. Melzer hat noch nichts von Dir bekommen. Das beunruhigt mich etwas. Er sagt, an ihn dürftest Du jederzeit schreiben. Ich habe auf mein Gesuch keine Antwort bisher.

Deine Rose.

Heute ist Dein Brief ausgeblieben. Erst war ich furchtbar enttäuscht, habe mir dann aber gesagt, daß Du diese Woche vielleicht an Dr. Melzer schreibst statt an mich. Ich rufe ihn gleich morgen an. Hoffentlich hat er etwas bekommen. Sonst denke ich, daß Du krank bist.

Ach Georg, ich stelle es immer wieder fest: es gibt für mich keinen Mann außer Dir u. wird auch nie einen geben.