Lieber Georg,
jetzt funktioniert unser Briefwechsel wieder, da ich mit meinem Brief warten kann, bis ich – meist Sonntag früh – Deinen bekommen habe. In Lobenstein mußte ich meinen Brief wegschicken, bevor ich Deinen in Händen hatte.
Ich nehme an, daß Du ein Gesuch nach Dresden gemacht hast, um die Erlaubnis zu bekommen, an Dr. Melzer zu schreiben. Bitte teile mir gleich mit, wenn Du sie erhalten, bzw. Deinen Brief an Dr. Melzer geschickt hast. Ich habe übrigens auch ein Gesuch gemacht, da wenigstens ich Dich besuchen möchte, um Deine Wünsche die Verteidigung betreffend Herrn Dr. Melzer übermitteln zu können. Ich habe bisher keine Antwort erhalten. Hoffentlich ist es Dir recht, daß ich diesen Versuch gemacht habe. Sollte Dir bezw. Dr. Melzer die schriftliche bezw. mündliche Mitteilung durch mich nicht genügen, muß dann Dr. M. doch noch zu Dir fahren. Du weißt ja, daß es mir nicht leicht sein wird, das Geld aufzubringen. Aber es muß dann eben sein. Es darf keine Gelegenheit vorbeigelassen werden, daß Dir Recht wird.
Hoffentlich ordnet sich alles recht bald. Dr. Melzer beabsichtigt ev. eine Verteidigungsschrift einzureichen. Dazu müßte er Dein Material ja in Händen haben. Und 7 Wochen ist keine lange Zeit mehr.
Nach der Entscheidung des Stadtschulrats darf ich weiterhin beruflich tätig sein u. wenn von Seiten der Elternschaft kein Einspruch erhoben wird, was bis jetzt ja nicht geschehen ist, werde ich auch weiter dort arbeiten dürfen.
Du hast mir oft gewünscht, daß ich einmal von Hause fort käme, woanders studierte, um einmal ganz selbständig u. unabhängig zu sein. Solche unbegrenzte Freiheit habe ich jetzt. Niemand fragt mich, wann ich gehe oder komme, was ich tue u. lasse. Wenn ich zu Besuch bin, bleibe ich oft über Nacht; mittags gehe ich auch oft nicht heim, esse gleich in der Stadt. Ich kaufe, was ich mag, lade ein u. beschenke (in bescheidensten Grenzen), wenn ich Lust habe. Wenn ich nun auch bei Dir viel Freiheit hatte, so ist das doch noch anders. Aber vor allem ist es ein enormer Unterschied zu meinem Leben bei der Mutter. So gut sie es sonst meinte, da hat sie einen Fehler begangen. Die Folge davon war, daß sich mein Selbstbewußtsein gar nicht entwickeln konnte. Hoffentlich haben sich Selbstbewußtsein und Freiheitsliebe jetzt nicht so entwickelt, daß Du dann Not mit mir hast. Ich denke aber sehr, es wird leichter für Dich sein als früher.
Ich habe jetzt viel zu tun. Eine Lektion: Einfluß des Papsttums auf Deutschland.
Dann betreibe ich viel Englisch, was für mich von großer Wichtigkeit ist. (Frl. Chelius! Abgang ist eine Frage der Zeit u. man denkt an mich als ihre Nachfolgerin.)
Denke Dir, vorgestern bin ich mit meiner Klasse in einem großen Flugzeug (30 Personen) geflogen. Ich wollte mit erst die 2,50 sparen, aber die Kinder bettelten so sehr, daß ich mit fuhr. Es war ganz herrlich! Bitte schreibe, wie es Dir geht.
Rose.
Deine Geschwister schreiben öfter. Ihre Teilnahme freut mich sehr. Sogar der 100prozentig schreibfaule Poldi schrieb gestern. Das ist eine Leistung für ihn.