Brief von Georg

Gefangenenanstalt I Leipzig

Meine liebe kleine Marusja,

ich bin immer noch hier und weiß nicht, was mit mir geschehen wird. Mit Melzer habe ich noch nicht gesprochen. Ich weiß deshalb nicht, was man ihm in Dresden gesagt hat. Am 2. habe ich erfahren, daß ich auf Grund eines Funkspruchs aus Dresden in Haft bleiben muß. Vielleicht werde ich wieder nach Sachsenburg kommen. Ich möchte dich dann bitten, mir 2 – 3 Mark zu überweisen. Mein Geld wird mir nämlich nachgesendet und dies dauert 2 bis 3 Wochen. Schicke mir bitte den letzten Jahrgang der Osteuropa-Zeitschrift (von Dezember 1934 an) aus dem Institut. Herr Auerbach kann das eigentlich selbst machen. Ich nehme an, daß das Gericht nichts einzuwenden haben wird. Es handelt sich ja um eine Fachzeitschrift, die ich für meine wissenschaftlichen Arbeiten brauche. Für das Schachspiel bin ich dir sehr dankbar. Ich habe große Fortschritte gemacht. Gestern und heute finden bei uns Meisterschaftskämpfe statt. Ich habe die beste Aussicht, ein Zellenmeister zu werden. Hat mein Bruder mein Schachbuch zurückgegeben?

Es tat mir sehr leid, daß du der Verhandlung nicht beiwohnen durftest. Das stundenlange Warten war sicher viel anstrengender als die Verhandlung. Wenn ich mich an diesen Tag erinnere, so denke ich vor allen Dingen an die kurze Zeit unseres Zusammenseins. Die wenigen Minuten haben mich auf lange Zeit glücklich gemacht. Aus deinem letzten Brief konnte ich entnehmen, daß du dir keine übertriebene Illusionen über die Zukunft machst. Es ist wirklich zweckmäßiger auf schlimmeres gefasst zu sein, um dann eine angenehme Überraschung zu erleben, als umgekehrt.

Die alte Frl. Hoffmann hat sich als einer unserer treusten Freunde gezeigt. Bei ihr kann allerdings die Neugierde bzw. das Pflichtbewußtsein eine Rolle gespielt haben. Dann allerdings ist der Wert ihres Erscheinens wesentlich niedriger einzuschätzen. Ich bin überhaupt sehr neugierig zu erfahren, wie einzelne unserer Bekannten sich in der letzten Zeit sich verhalten haben. In der Zeit der Not hast du sicher gelernt, Weizen vom Spreu zu unterscheiden. Später wirst du mir sicher vieles Interessantes erzählen können.
In meiner Zelle sind wir 3 Mann. Zum Lesen und überhaupt zur geistigen Arbeit komme ich deshalb weniger als in Dresden, wo ich Einzelhaft hatte. Die Zeit vergeht trotzdem ziemlich schnell. Jeder hat etwas zu erzählen. Ich habe dabei festgestellt, daß selbst ein mehrfach vorbestrafter Dieb ein durchaus brauchbarer Kamerad sein kann. Traurig ist es zu sehen, auf was für eine Bahn eine lange Arbeitslosigkeit den Menschen bringen kann. Ich glaube mich erinnern zu können, daß die Kriminalität nach der Inflation um etwa 50% zurückgegangen ist.

Trotzdem ich in der letzten Zeit so viele Menschen kennen gelernt habe, muß ich doch feststellen, daß mein bester Kamerad doch meine Frau ist. Da habe ich wirklich kein Zweifel, daß sie immer das Richtige tut und daß ich mich auf sie immer verlassen kann. Die harte Prüfung der letzten 11 Monate hat sie glänzend bestanden. Und dies war bestimmt schwerer als die Prüfung in Pädagogik usw.

Mit herzlichen Grüßen
dein Georg.

Schicke mir bitte die neue Ausgabe „Schule im Dienste der Persönlichkeit“.