Lieber, guter Georg,
hoffentlich der letzte Brief an Dich! Der letzte Du, wie das klingt! Aber es kann nicht anders sein. Dein Brief vom 17. hat mich so froh gemacht. Du hast Deine Lage und die Möglichkeiten stets vollkommen richtig beurteilt, richtiger als ich und sogar Dr. Melzer. Darum steckt mich jetzt Dein Optimismus so an. Weißt Du, ich habe, besonders in der ersten Zeit Deiner Verhaftung, mit einer so schrecklichen Intensität auf Dich gewartet, Tag um Tag gehofft und immer umsonst, daß ich schließlich gar nichts Gutes mehr hoffen konnte. Ich hielt diese furchtbaren Enttäuschungen gar nicht mehr aus, darum wurde meine Seele ökonomisch und ergab sich einem traurigen Fatalismus. Jetzt aber kann ich wieder lachen u. erlaube meiner Fantasie sogar, sich auszudenken, wie das sein wird, wenn man wieder von den festen, warmen Händen seines Kameraden geführt wird. Siehst Du, ich war sehr selbständig dieses Jahr, und ich bin in meinem Selbstgefühl gestärkt; niemand anderem möchte ich meine so schwer u. so spät errungene Selbständigkeit opfern. Allein mich von meinem Schulmeister und Herrn regieren u. schulmeistern zu lassen ist mein sehnlichster Wunsch. Ich wünsche es aus purem Egoismus. Ganz instinktiv suche ich Deine Erziehung, die mir gibt, was mir bisher gefehlt hat.
Nun werde ich 31 Jahre; das ist noch jung, Georg, ja? Verloren ist das Jahr insofern, als ich kein Kind haben konnte. In anderem Sinne ist es aber eines der wichtigsten u. wertvollsten Jahre meines Lebens. Ja, Georg, trotz der Qual, der Sorge, die ich nie wieder erleben möchte. Wertvoll, weil sich erwiesen hat, daß der Grund, auf den ich mein Leben bauen will – unsere Ehe – so hart und sicher ist, wie ich’s kaum geglaubt hätte.
Als ich in Deinem letzten Brief las, daß für Dich das Leben im Lager psychologisch und menschlich interessant war, da mußte ich denken, was ich schon so oft gedacht habe: Du bist so sehr ein geselliges Wesen u. Gemeinschaftsmensch, daß so ein Leben mit 1, 2 Menschen, Frau u. Kindern, gar nichts für Dich ist. Je größer die Gemeinschaft, umso lieber ist es Dir.
Sicher hast Du Deine Frau gar nicht so vermißt? Mir ist es ja auch so ähnlich ergangen wie Dir. Mir hat auch eigentlich das Leben in meiner Arbeitsgemeinschaft, mit Kollegen u. Schülern, die Einsamkeit tragbar gemacht. In solcher Gemeinschaft gibt es 100 Möglichkeiten, sich einzusetzen, sich zu erproben an etwas Überindividuellem.
Ich weiß wohl, daß ich nach dem 1. Nov. noch warten muß. Aber doch, Junge: Auf Wiedersehen!
Deine M.