Lieber, guter Georg,
wieder Festtage ohne Dich! Ich weiß gar nicht mehr, wie das ist, wenn man Freude und Sorge, Fest und Arbeit mit dem Kameraden teilt. Freilich denke ich manchmal, daß es sehr gut für mich ist, die Lebensweise meiner unverheirateten Berufskolleginnen kennen zu lernen. Ich verstehe sie jetzt viel besser als früher, u. sie tun mir schrecklich leid in ihrer Einsamkeit. Aber deshalb leide ich doch jeden Tag neu u. mit gleicher Intensität darunter, daß ich von Dir getrennt bin. Trotz Streit u. Widerspruch u. gegensätzlicher Anschauungen waren wir beide so ganz zusammengehörig. – Wann ich Dich mal wieder sehe? Sollte der Sommer drüber vergehen – unser schöner Sommer? Denkst Du manchmal an die vergangenen Sommer? An das Kleinzschocher-Bad mit Schwimmen, Vorlesen, Ringspiel? Und nach dem Baden gab’s Gurken- und Tomatensalat oder Deine ewigen Bohnen. Und Buttermilch vom vollschlanken Ehepaar Müller. – Ich denke jetzt so oft an einen Sommerabend. Da gingen wir beide vorm Schlafengehen noch einmal auf die Veranda u. guckten uns die Sterne u. den Wald an. Da sagtest Du: „Wir haben es eigentlich sehr gut!“ Jetzt schaue ich mir die Sterne allein an u. sage zu mir selbst: „wenn ihr nur geahnt hättet, wie gut ihr es damals hattet!“
Wie ich von Dr. Melzer hörte, ist die Anklage gegen Dich nunmehr formuliert. Darüber bin ich eigentlich froh. Es ist ein Schritt weiter zur Klärung Deines Falles. Und – wie ich fest überzeugt bin – es ist ein Schritt zu unserem baldigen Wiedersehen. Ach, wie will ich mich freuen! Ich glaube, ich falle um vor Freude, oder kann kein Wort sagen, oder heule, was ich jetzt manchmal so gern tun möchte u. nicht kann.
Denke Dir, mit meiner Schularbeit habe ich jetzt etwas ganz Interessantes zu tun. Ich lese mit meiner Klasse den Homer. Und der gefällt mir so. Diese ollen Griechen sind Prachtburschen. Gar nichts von „edler Einfalt, stiller Größe“. Wilde und rohe Kerle sind das, aber von einer Kraft u. Intensität, voller Lebensfülle, daß es einen begeistern kann. Die Mädels sind viel zu jung, um zu spüren, welche Wucht u. Kraft in der Dichtung steckt. Immerhin werden sie vielleicht lernen, daß da etwas Schöneres vor ihnen steht als ihre Backfischbücher, die sie leider immer noch lesen.
Leb wohl, lieber Junge! Alles Gute!
Dein guter Freund.
(Weißt Du, daß Du mich in der Widmung Deiner Doktorarbeit so genannt hast?)
Heute 15 M an Dich eingezahlt.