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Georg Sacke wird aus der Haft entlassen

Im November 1935 findet die Gerichtsverhandlung vor dem Landgericht in Leipzig statt. Georg Sacke wird vom Verdacht des Hochverrates freigesprochen. Zuvor hatte er seine deutsche Staatsbürgerschaft verloren. Am 5. Dezember 1935 wird er aus der Haft entlassen.

Die Widerstandsarbeit nach Leipzig riss nicht ab. In Hamburg gliederte er sich in eine Widerstandsgruppe um den kommunistischen Lehrer Hans Ketzscher ein, den er aus gemeinsamen Leipziger Studienzeiten kannte. Im Zuge der Verhaftungswelle gegen die Leipziger Widerstandsgruppen, die sich nun als „Leipziger Nationalkomitee Freies Deutschland“ organisiert hatten, geriet auch Georg Sacke erneut ins Visier der Gestapo.

Gemeinsam mit seiner Frau wurde er am 15. August 1944 in den Büroräumen des Hamburgischen-Welt-Wirtschafts-Instituts e.V. verhaftet und in das Gestapo-Gefängnis und Konzentrationslager Fuhlsbüttel eingeliefert. Eine Anklage erfolgte nie. Vielmehr wurde er am 20. März 1945 in das Massenvernichtungslager Hamburg – Neuengamme verlegt, erkrankte und durchlitt geschwächt den Todesmarsch nach Lübeck. Noch bevor er eingeschifft wurde, brach er vor den Schiffen um die „Cap Arcona“ zusammen, wurde geschlagen, getreten, weggeschleift und verstarb. Sein Grab findet man auf dem Vorwerker Friedhof in Lübeck.

Auszug aus der Kurzbiografie von Dr. Volker Hölzer für die Gedenkstätten-Website.

Erstes Bild nach der Entlassung aus der Haft Anfang 1936. Fotos von Lenka Koerber. Quelle: Sächsisches Staatsarchiv. Staatsarchiv Leipzig, Nachlass Georg Sacke 21820, 48, Bl.7.

Brief von Georg

Meine liebe Kleine,

ich habe gestern erfahren, daß mir doch gestattet wurde, Obst usw. zu erhalten. Ich möchte dich deshalb bitten, mir 4 Pfund Möhren, 2 Pfund Zwiebeln und eine kleine Tube Zahnpasta zu bringen. Nimm auf alle Fälle auch ein Pfund Pflaumenmus (in Pergamentdose!) mit. Mit meinen Aufträgen mache ich dir so viel Arbeit. Ich hoffe jedoch, daß es nunmehr nicht lange dauern wird. Wenn du kommst, kannst du auch meine Wäsche nach Hause mitnehmen. Sie kann auch bei dir bleiben, da ich mit sauberer Wäsche reichlich versorgt bin. Die Schuhe habe ich dir zurückgeschickt, weil die anderen durchaus in Ordnung sind. Ich habe sie reparieren lassen!

Nun ist es bald ein Jahr, daß ich in Haft bin. Man hat mich neulich gefragt, ob ich geistig zusammengebrochen oder zu mindesten zurückgegangen bin. Dies konnte ich mit gutem Gewissen verneinen. Wenn ich wieder auf freiem Fuß bin, will ich zwar in erster Linie dir dein Leben erleichtern, damit du das schwere Jahr 1935 möglichst bald vergisst. Aber ich werde schon am nächsten Tag in die Universitäts-Bibliothek gehen. Ich habe in der letzten Zeit meine letzten Arbeiten gründlich durchdacht, und ich will sie in möglichst kurzer Zeit abschließen. Ich bin auch überzeugt, daß dies mir gelingen wird. Ich bedauere sehr, daß ich hier keine Schreibgelegenheit habe.

Schließlich möchte ich dich bitten, die ersten 2 – 3 Bände des Archivs der Brüder Turgenew mir zu schicken (aus dem Institut!)* Damit eilt es jedoch nicht. Ich bin bis Ende nächster Woche mit Lesestoff versorgt.

Seit dem 13. d. M. habe ich keinen Brief von dir. Ich weiß, daß du viel zu tun hast, aber ich möchte trotzdem von dir etwas hören. Du glaubst gar nicht, wie es einen erfrischt, wenn man einen Brief von dir bekommt. Als ich neulich das Buch deines Vaters las, habe ich die größte Lust gehabt, es mit dir zusammen zu lesen. Da gibt es Stellen, die ich voll und ganz unterschreiben kann. Wir werden dies unbedingt nachholen müssen. Vielleicht zum Weihnachten. Deine alten Jungfern haben von der Ehe keine Ahnung.

Mit herzlichen Grüßen

Dein Georg.

* und meine Aufsätze! Die letzten vielleicht schon am Montag!

Brief von Rosemarie

Mein lieber Georg,

heute bekam ich Deinen Brief vom 21., für den ich Dir herzlich danke. Ich weiß gar nicht, wie Du das fertig bringst: anstatt über Deine Lage zu klagen, gibst Du mir mit jedem Brief neue Kraft u. neuen Trost. Du hast es doch so viel schwerer als ich: Deiner Freiheit u. aller Gesellschaft beraubt, ohne rechte Arbeit, ohne manche Bequemlichkeiten bist Du stärker als ich, die doch eine schöne Arbeit, ein hübsches Zuhause, viele freundliche Menschen hat. Na, letzten Endes wird unser Kräfteverhältnis immer so bleiben, daß Du in jeder Lage der stärkere von uns beiden bist. Und das ist gut so für mich.

Was unsere Zukunft anbetrifft, bist Du offenbar zu pessimistisch. Daß man so lange auf eine Entscheidung warten muß, braucht nichts Böses zu bedeuten. Vielleicht dauert es stets so lange, bis ein Beschluß gefaßt wird. Als Du seinerzeit aus der Untersuchungshaft entlassen wurdest, mußtest Du auch 3 ½ Woche warten, bis Du Bescheid bekamst, was weiter mit Dir werden sollte. Dann kann es vielleicht auch noch einen anderen Grund haben, daß bis jetzt noch nichts angeordnet ist. Als sich zu eurem Prozeß das Gericht zur Beratung zurückzog, erzählte mir Frl. Reinmuth ganz aufgeregt, der Staatsanwalt hätte gesagt, er könne sich kein klares Bild über die Lage der Dinge machen, ehe nicht der Berliner Prozeß beendet wäre. Damals fürchtete Frl. Reinmuth, daß euer Prozeß deshalb nochmals verschoben würde. Das ist ja Gott sei Dank nicht geschehen. Aber das Hinausschieben Deiner Entlassung aus der Schutzhaft hängt vielleicht mit diesem Ausspruch des Staatsanwalts zusammen. Der Berliner Prozeß hat, wie ich hörte, am Dienstag, dem 19. begonnen u. wird vermutlich erst am 25. oder 26. 11. beendet sein. Dann aber nehme ich an, wird man Dich gleich entlassen.

Du wunderst Dich gewiß, daß Dr. Melzer sich gar nicht mehr um dich kümmert. Er betrachtet wohl seine „Mission“ bei Dir mit dem Freispruch für abgeschlossen. Das ist ja begreiflich. Nun hätte ich ihn ja bitten können, nach Dresden zu fahren usw. Ich habe es aber deshalb nicht getan, weil es wieder eine Menge Geld kosten würde u. Dr. Melzer doch wohl, wie frühere Erfahrungen gezeigt haben, wegen Deiner Schutzhaftentlassung nichts erreichen konnte. Georg, denke nicht, daß ich an Dir sparen will! Ich denke bloß, es hat keinen Zweck.

M. E. mußt Du nun aber unbedingt ein Gesuch nach Dresden richten, wenn Du nächste Woche nicht herausgelassen wirst. Oder soll ich es machen? Mir hat Dein Sachbearbeiter bei der Geheimen Staatspolizei seinerzeit als Grund für Deine Inschutzhaftnahme angegeben: Du hättest Dich an der Aufrechterhaltung des Zusammenhalts einer anderen Partei als der NSdAP beteiligt. Da aber nach dem Urteil des Landgerichtes Dir das nicht nachgesagt werden kann, muß man Dich doch nun freilassen.

Ich wollte sehr gern dieses Gesuch mit Dir besprechen u. habe deshalb ein Gesuch um Besuchserlaubnis gemacht (So ohne weiteres darf ich Dich nicht sehen.) Hoffentlich bekomme ich bald Antwort.

Auf alle Fälle schaffe ich Dir am Montag Deine Rüben u. Zwiebeln herein (Du armer Bursche!) Was Du sonst noch wünschst, werde ich zu erfahren suchen. Leider hast Du es ja aus Zeitmangel in Deinem Brief nicht mehr schreiben können.

Hat man Dir Dein Geld nicht zur Verfügung gestellt, weil Dein Brief unfrankiert ist? Ich war gleich am Dienstag im Pol.-Präs. und wollte Geld für Dich einzahlen, weil Du mir mal geschrieben hattest, es dauerte eine Weile, bis das Geld von einem Gefängnis zum anderen überwiesen würde. Aber im Pol-Präs. sagte man mir, Du hättest genug, 24 M.

Ich halte es für ausgeschlossen, daß man Dich nach einem Freispruch ausweist. Wie sollte das auch möglich sein? Gewiß, wenn man Dich schuldig gesprochen hätte, wäre es etwas anderes.

Sollte es doch, wieder alles Erwarten, geschehen, müßtest Du selbst einmal nach Dresden fahren u. versuchen, eine Rückgängigmachung dieses Beschlusses durch eine genaue Darlegung Deines durchaus passiven Verhaltens zu erreichen.

Auf alle Fälle erwarte ich für die nächste Woche bestimmt eine Entscheidung.

Daß Du jetzt hier in Leipzig bist, ist besser u. schlechter, als wenn Du weit weg bist. Ich kann doch öfter nach Dir fragen, erfuhr z. B. am Montag, daß Du nach dem Pol.-Präs. geschafft würdest. Ich hörte so ungefähr die Zeit, wann der Transport abging (vielleicht habe ich auch etwas ganz Falsches aufgeschnappt) u. wartete um die Zeit auf der Straße. Aber kein Auto war zu sehn.

Aber wenn ich Dir auch öfter etwas schicken kann, so ist das Bewusstsein, Dir nah u. doch ganz fern zu sein, direkt qualvoll.

Wenn ich an der Kasse der Gefangenenanstalt war, sah ich die Glastür zu dem Zellengang. Einmal stand sie sogar offen, weil die leeren Eßgeschirre herausgeschafft wurden. Da kam es mir einfach sinnlos vor, daß ich nun nicht durch diese Tür zu Dir gehen durfte.

Ich bedauere Dich sehr, daß Du keine Zeitung lesen darfst. Es ist sicher nicht schön, so den Kontakt mit der Außenwelt zu verlieren.

Daß Du gesund bist, macht mich ganz glücklich. Das war auch der beste Eindruck vom Verhandlungstag, daß Du so gesund aussahst.

Du schreibst, daß ich Kraft hätte. Von Natur aus ist es nicht weit her damit. Aber meine große Zuneigung zu Dir gibt mir immer wieder Kraft. Diese Zuneigung ist in diesem Jahr immer fester geworden.
Alles Gute!

Deine R.

Brief von Georg

Polizeipräsidium Leipzig, Zelle 24

Meine liebste Rose,

ich bin seit Montag im Polizeipräsidium (Zelle 24). Was nunmehr aus mir wird, weiß ich nicht. Allem Anschein nach Ausweisung. Ich sehe zu, daß ich zu mindestens 3 Tage noch bleiben darf, um alle meine Sachen in Ordnung zu bringen. Lebensmittel kann ich leider hier nicht kaufen. Du kannst mir aber etwas mitbringen oder zuschicken (Besuchszeit Mo., Mi. und Fr. 10.30 bis 12.30). Ich möchte dich um etwa 4 Pfund Möhren und 1 Pfund Zwiebeln bitten. Butter, Fett usw. wird, wie ich gehört habe, nicht angenommen. Für die Bücher und insbesondere die Zeitschrift bin ich dir sehr dankbar. Es war für mich ein Fest. Es freut mich sehr, daß ich jetzt auch in die Gedankenwelt deines Vaters mich vertiefen kann. Ich versuche jedenfalls die Zeit möglichst produktiv zu gestalten. Du bist eine wirklich rührende Frau. Du scheinst immer daran zu denken, ob mir nicht etwas fehlen könnte. Ich bin jetzt mit allem versorgt. Mache dir ja keine Sorgen. Auch gesundheitlich geht es mir ganz gut.

Die endgültige Entscheidung über meine Zukunft wird hoffentlich bald fallen. Ich weiß, daß du stark und selbständig genug bist, um auch die schwersten Konsequenzen tragen zu können. Ich bin auch überzeugt, daß wir uns auch in dieser Zeit uns durchsetzen werden. Ich werde sicher irgend eine Beschäftigung finden, und dann werden wir wieder zusammen sein können.

Zeitung kann ich hier leider nicht halten. Bis jetzt habe ich mit größtem Interesse die Ereignisse in Abissinien verfolgt.
Leider kann ich nicht mehr schreiben, da der Brief abgegeben werden muß.

Leb wohl, meine liebe gute Marusja, ich küsse deine kleinen Hände

Dein Georg.

Schicke mir bitte auch

Brief von Rosemarie

Ach, Schorsch, was habe ich manchmal das Verlangen, mich mit einem vernünftigen Manne, d. h. mit Dir zu unterhalten. Ich spreche ja viel mit meinen Kolleginnen, und es sind sehr gescheite Frauen darunter. Aber sie sind so „vergeistigt“, das fällt mir manchmal auf die Nerven. Mich nennen sie auch „erdverbunden“, ich weiß nicht, ob das in ihren Augen etwas Gutes ist oder nicht. Ich kann und mag freilich nicht in natürlichen u. anschaulichen Dingen alles mögliche Rätselhafte u. Symbolische sehn. So unterhalten wir uns jetzt über Märchen, weil wir einen Märchenabend machen. Da gibt es so ein prachtvolles Märchen vom Hasen und Swinegel. Die machen einen Wettlauf, den der Igel gewinnt. Er setzt nämlich seine Frau, die genau so aussieht wie er, an das Ziel, u. die ist dann schon da, wenn der Hase ankommt. Diese saftig u. anschaulich erzählte Geschichte mit ihrer ganz naiven Freude an der Schlauheit des einen, der Dummheit des andern „Wettläufers“ soll den tiefen Sinn haben, daß der Mann stets eine ihm ebenbürtige Frau wählen soll. Das ist doch recht albern!

Diese Frauen haben übrigens manchmal eine ziemlich ungeistige Auffassung der Beziehung zwischen Mann u. Frau, lehnen sie für sich ganz ab als etwas Minderes. Da sehe ich denn zu meinem Staunen, daß ich erdschweres Wesen eine sehr viel geistigere Auffassung von der Liebe habe als sie. Na, es sind trotz allem tapfere u. tüchtige Geschöpfe, die berufstätigen Frauen.

Aber ein Gespräch mit meinem Mann, das ist freilich etwas anderes. Entsinnst Du Dich noch an einen Abend im Januar 1929, da unterhielten wir uns über Probleme des Bauerntums. Seltsamer Weise ist mir bei diesem Gespräch zum ersten Mal der Gedanke aufgetaucht, daß wir uns heiraten würden. Man merkte genau, daß der eine ganz klar erfaßte, was der andere sagte. Du erklärtest mir etwas – genau das, was ich wissen wollte. Und ich merkte, daß Dir meine Fragen recht waren. Mir sind solche Gespräche, wo umschichtig der eine u. der andere einen Stein hinzufügt, bis ein hübsches Gebäude entstanden ist, am liebsten. Du hast es freilich lieber, wenn man sich im Gespräch gegenseitig mit Gedankensteinen bewirft, d. h. eine scharfe Diskussion führt. Ich glaube, Du magst den Gesprächspartner am meisten, dessen Anschauungen den Deinen diametral entgegengesetzt sind. Alter Streitbock, Du!

Na, nun Schluß. Jetzt gehe ich schlafen. Gute Nacht, lieber Junge!

Deine R.

Warum hast Du mir heute keine schmutzige Wäsche geschickt? Ich will sie doch waschen!

Brief von Rosemarie

Lieber Georg,
ich bin eine pflichtvergessene Person. Statt zu korrigieren, schreibe ich Dir. Ich muß es aber tun, weil Du gleich wissen mußt, daß ich über Deinen Brief vom 8. 11. sehr froh bin. Du entschädigst mich für das Schwere, was ich durchmachen mußte, wenn Du mir sagst, daß Du zufrieden mit mir bist und Dich auf mich verläßt. Für mich gibt es nichts Schöneres als ein Lob von Dir, denn ich möchte Dir gefallen. Nicht äußerlich, sondern so. daß Du mich wert hälst.

Es ist sehr gut, daß Du Schach spielen kannst. Auch das, was Dir Deine Kameraden erzählen, ist sicher – menschlich – interessant. Du kommst jetzt mit Menschen zusammen, die Du unter anderen Umständen nie kennengelernt hättest. So ein Eindringen in einen anderen Lebensraum ist bestimmt lehrreich.

Du triffst durchaus das Richtige, wenn Du Frl. Hoffmann Sensationslust nachsagst. Auch das Pflichtgefühl meinem Vater gegenüber, dem sie treulich anhängt, spielt eine Rolle. Aber überwiegend ist doch eine herzliche Anteilnahme an meinem Geschick. Ich habe ein warmes, menschliches Verhältnis zu ihr gewonnen.

Auch ich denke dankbar an (die) kurze Zeit des Beisammenseins mit Dir, die man uns gewährte. Die Vorstellung, daß wir wieder einmal solange beieinander sitzen u. uns erzählen werden, wie wir wollen, erscheint mir jetzt geradezu fantastisch. Aber es wird ja einmal sein, Georg, ganz, ganz bestimmt. All das kann lange dauern aber nicht immer. Und dann werden wir unser Leben neu bauen – von unten auf – aber mit ganz neuen Kräften. Mir kommt es jetzt so vor, als ob ich überhaupt nicht mehr müde sein werde, wenn Du wieder bei mir bist. Schon Deine Briefe geben mir stets neue Kraft.

Heute war ich zum Tee eingeladen, da war auch ein Student, der glich Dir etwas. Er war auch so ruhig und natürlich wie Du. Ich unterhielt mich ganz gut mit ihm u. dachte dabei, wie ich diese Deine Art liebe. Alle Männer, die nicht Deine Festigkeit u. Ruhe haben, kommen mir gar nicht wie Männer vor. Ihnen gegenüber fehlt mir das Gefühl des Geborgenseins, das ich bei dir stets habe.

Etwas ganz anderes: ich bin jetzt eine fanatische Anhängerin des Radfahrens geworden. Ich denke manchmal mit Kummer daran, daß ich früher auf das Rad, das Du mir geschenkt hast, oft schimpfte. Jetzt liebe ich es aber, rase überall in der Stadt herum, spare viel Geld u. bin viel an der frischen Luft. Ich glaube, ich bin früher zu langsam gefahren. Da geht es viel schwerer. Ich habe jetzt aber auch einen Hosenrock, das ist bequem, da rutscht einem der Rock nicht weg.

An meinen Kleidern merke ich so recht, wie lange Du fort bist. Immer habe ich irgend etwas Hübsches für Deine Rückkehr aufbewahrt – im Frühjahr, im Sommer, im Herbst. Jedesmal mußte ich es schließlich doch anziehen, für fremde Leute, an denen mir nichts liegt.
Es scheint mir sogar jetzt noch so zu gehen, daß ich vergeblich etwas Hübsches für Dich vorbereite. Auf meinem Balkon habe ich eine wahre Alpenveilchenkultur. Sie stammen alle von meinen Mädels, vom Geburtstag. Mit viel Kunst, unter Frl. Kretzschmars Beistand, halte ich die Pflanzen im Blühen zurück, damit Du Dich noch dran freuen kannst. Na, wenn es so weiter geht wie bisher, siehst Du weder Knospe noch Blüte.

Aber im Ernst, Junge: ich nehme an, daß Du bald herauskommst. Nach Sachsenburg schickt man Dich sicher nicht wieder. Dr. Ziegler vom Polizeiamt hat mir seinerzeit gesagt, daß Du vor dem 14. Oktober (bez. 1. Nov.) nicht aus der Schutzhaft entlassen würdest. Daraus kann man vielleicht doch schließen, daß nach der Verhandlung an eine Entlassung zu denken ist.

Das einzige, was mir Dr. Melzer mitteilte, ist, daß über Dich Anfang dieser Woche (11. – 18.) entschieden wird. Ich bitte Dich sehr, mich, wenn irgend möglich, gleich zu benachrichtigen, wenn irgend eine Veränderung Deiner Lage erfolgt. Solltest Du mich zuhause nicht antreffen, liegt ein Schlüssel bei unseren Nachbarn. Ich bin oft bei der Mutter, rufe dann doch gleich an. Die erbetenen Bücher schicke ich jetzt nicht – ich warte, bis der „Anfang der Woche“ vorbei ist. Bitte schreibe, ob Du Geld oder Wäsche brauchst. Ich habe diesen Freitag ganz vergessen. Ich bin aber auch zu dumm! Eben fällt mir’s ein! Bitte sei nicht böse.

Und nun „Gute Nacht“. Ich bin so glücklich, daß Du mich Deinen besten Kameraden nennst. Niemand gönne ich diesen Titel. Manchmal ist es Dir vielleicht doch so erschienen, als ob ich’s nicht bin, wenn ich etwas nicht gleich schickte oder scheinbar nicht schrieb oder nicht kam. Aber glaube mir, Georg, was Dich betrifft, habe ich mich stets bemüht, ganz rasch zu handeln u. alles Mögliche zu tun. Aber manchmal gab es bei mir oder auch bei Dir Hindernisse, von denen Du nichts weißt. Z. B. das Schachspiel habe ich am selben Tag abgeschickt, an dem ich Deinen Brief erhielt.

Und nochmals alles Gute!

Deine Rose

Brief von Georg

Gefangenenanstalt I Leipzig

Meine liebe kleine Marusja,

ich bin immer noch hier und weiß nicht, was mit mir geschehen wird. Mit Melzer habe ich noch nicht gesprochen. Ich weiß deshalb nicht, was man ihm in Dresden gesagt hat. Am 2. habe ich erfahren, daß ich auf Grund eines Funkspruchs aus Dresden in Haft bleiben muß. Vielleicht werde ich wieder nach Sachsenburg kommen. Ich möchte dich dann bitten, mir 2 – 3 Mark zu überweisen. Mein Geld wird mir nämlich nachgesendet und dies dauert 2 bis 3 Wochen. Schicke mir bitte den letzten Jahrgang der Osteuropa-Zeitschrift (von Dezember 1934 an) aus dem Institut. Herr Auerbach kann das eigentlich selbst machen. Ich nehme an, daß das Gericht nichts einzuwenden haben wird. Es handelt sich ja um eine Fachzeitschrift, die ich für meine wissenschaftlichen Arbeiten brauche. Für das Schachspiel bin ich dir sehr dankbar. Ich habe große Fortschritte gemacht. Gestern und heute finden bei uns Meisterschaftskämpfe statt. Ich habe die beste Aussicht, ein Zellenmeister zu werden. Hat mein Bruder mein Schachbuch zurückgegeben?

Es tat mir sehr leid, daß du der Verhandlung nicht beiwohnen durftest. Das stundenlange Warten war sicher viel anstrengender als die Verhandlung. Wenn ich mich an diesen Tag erinnere, so denke ich vor allen Dingen an die kurze Zeit unseres Zusammenseins. Die wenigen Minuten haben mich auf lange Zeit glücklich gemacht. Aus deinem letzten Brief konnte ich entnehmen, daß du dir keine übertriebene Illusionen über die Zukunft machst. Es ist wirklich zweckmäßiger auf schlimmeres gefasst zu sein, um dann eine angenehme Überraschung zu erleben, als umgekehrt.

Die alte Frl. Hoffmann hat sich als einer unserer treusten Freunde gezeigt. Bei ihr kann allerdings die Neugierde bzw. das Pflichtbewußtsein eine Rolle gespielt haben. Dann allerdings ist der Wert ihres Erscheinens wesentlich niedriger einzuschätzen. Ich bin überhaupt sehr neugierig zu erfahren, wie einzelne unserer Bekannten sich in der letzten Zeit sich verhalten haben. In der Zeit der Not hast du sicher gelernt, Weizen vom Spreu zu unterscheiden. Später wirst du mir sicher vieles Interessantes erzählen können.
In meiner Zelle sind wir 3 Mann. Zum Lesen und überhaupt zur geistigen Arbeit komme ich deshalb weniger als in Dresden, wo ich Einzelhaft hatte. Die Zeit vergeht trotzdem ziemlich schnell. Jeder hat etwas zu erzählen. Ich habe dabei festgestellt, daß selbst ein mehrfach vorbestrafter Dieb ein durchaus brauchbarer Kamerad sein kann. Traurig ist es zu sehen, auf was für eine Bahn eine lange Arbeitslosigkeit den Menschen bringen kann. Ich glaube mich erinnern zu können, daß die Kriminalität nach der Inflation um etwa 50% zurückgegangen ist.

Trotzdem ich in der letzten Zeit so viele Menschen kennen gelernt habe, muß ich doch feststellen, daß mein bester Kamerad doch meine Frau ist. Da habe ich wirklich kein Zweifel, daß sie immer das Richtige tut und daß ich mich auf sie immer verlassen kann. Die harte Prüfung der letzten 11 Monate hat sie glänzend bestanden. Und dies war bestimmt schwerer als die Prüfung in Pädagogik usw.

Mit herzlichen Grüßen
dein Georg.

Schicke mir bitte die neue Ausgabe „Schule im Dienste der Persönlichkeit“.

Brief von Rosemarie

Lieber Georg,

nie ist es mir so schwer geworden wie jetzt. Vor einem Jahr hatte ich doch mehr Kraft als jetzt. Da konnte ich jeden Tag Wochen hindurch auf Dich warten, und es machte mir nichts aus, daß alles vergeblich war. Immer wieder schöpfte ich neue Hoffnung. Aber jetzt bin ich furchtbar müde. Das einzige, was ich jetzt gern tue, ist schlafen. Da warte ich nicht auf Dich. Sonst freut mich gar nichts mehr, nicht einmal die Schule. Und doch haben mir alle Kinder solch schönen Geburtstag bereitet. Es gab viele, viele Blumen u. kleine rührende Geschenke für mich. Aber was hilft mir das alles ohne Dich?

Sei nicht böse über diesen Brief! Wenn Du da bist, werde ich ganz frisch u. vergnügt sein. Bloß irgend eine Gewißheit möchte man haben!

Leb wohl, lieber Junge!

Deine Rose.

Brief von Rosemarie

Lieber Georg,

das war gestern ein anstrengender und aufregender Tag, aber mit viel Schönem – und vor allem einem guten Ende.

Aber nun muß man wieder Geduld haben. Die Mitteilung von Deinem Freispruch geht jetzt an das Ministerium bezw. das Polizeiamt; das wird noch eine Weile dauern. Dr. Melzer fährt zwar Montag, Dienstag nach Dresden u. will bei dieser Gelegenheit nachfragen, aber ich nehme an, daß er noch nichts erfahren wird.

Ob Du Deinen Tabak bekommen hast, weiß ich nicht. Gestern abend konnte ich, nachdem Du mich darum gebeten hattest, Dr. Melzer nicht mehr sprechen. Er war gleich weggegangen. Heute früh versuchte ich ihn zu erreichen, mußte aber dann in die Schule u. konnte ihn bloß eine Bestellung hinterlassen.

Heute hatte ich dummen Schulärger – eigentlich bin ich jetzt böse auf mich, daß ich mich ärgerte, ich habe doch weit wesentlichere Dinge im Kopf. Eine Kollegin hatte mir allerlei vertrauliche Mitteilungen über einen Kollegen gemacht. Ich war so dumm u. ließ mich auf das Gespräch ein und äußerte auch meinerseits meine Beobachtungen. (Der Kollege wird mit den Kindern nicht fertig.) Jetzt hat sie ihm aber alles wiedererzählt, was ich gesagt habe, u. er ist wütend auf mich. Ich war nicht unfair genug, um ihm zu berichten, was diese selbe Kollegin von ihm gesagt hatte. Man kann eben nicht vorsichtig genug mit seinen vertraulichen Mitteilungen über andere Personen sein.

Ich freue mich so wahnsinnig auf Dich. Ich wage aber einfach nicht zu glauben, daß Du wieder bei mir sein könntest. Das Zusammensein gestern war so unwirklich, wie im Traum saß ich bei Dir und konnte nichts anderes als in dem geliebten aufgeschlagenen Buch Deines Gesichtes lesen. Das ist mir so tief vertraut in jedem Zug und doch kann ich gar nicht müde werden, jede seelische Regung, die sich darin zeigt, aufzufangen. Wenn Du ganz böse, häßlich Dinge sagtest oder tätest, so brauchte ich bloß in Dein Gesicht zu sehn, um trotzdem an Dich zu glauben. Lachst Du über Deine übertriebene Frau? Solche außergewöhnliche Situationen wie jetzt bringen einen zu übersteigerten Gefühlsäußerungen.

Nun will ich gleich in die Stadt fahren u. deshalb aufhören.

Leb wohl, lieber, lieber Junge, laß es Dir gut gehen u. denke an Deine Frau. Ihr Leben hängt von Deinem Glück ab. Wenn Du leidest, ist ihr das ganze Leben eine Qual.

D. R.

Brieffragment von Rosemarie

Lieber Georg,

ich schrieb Dir deutsche Briefe. Jetzt möchte ich einen russischen Brief schreiben.

Wie geht es Dir? Denkst Du an mich? Ich denke viel an Dich. Wenn Du nicht hier bist, möchte ich nicht arbeiten oder essen oder schlafen. Ich bin sehr froh, daß Du kommen wirst. Dann werden wir spazieren gehen und uns unterhalten. Danach wirst Du mein Lehrer. Ich liebe die russische Sprache sehr, weil das Deine Sprache ist.

Jetzt ist bei mir der Russischlehrer, wir unterhalten uns, und ich verstehe fast immer, was er sagt. Ich spreche auch russisch, ich lese und schreibe. Mein Lehrer spricht stets sehr gut; ich weiß, daß ich das nicht kann.

Hella und Klaus fragen oft: Wo ist Onkel Georg? Sie lieben Dich, weil sie wissen, daß Du sehr …