Autor: sb_root

Brief von Rosemarie

Lieber Georg,

heute ist der gute Mittwoch, aber ein Brief von dir ist nicht gekommen. Na, Du hast sicher auch manchmal auf Briefe von mir warten müssen.

Ich war gestern bei Melzer, der mir wenigstens etwas sagen konnte, was mich freute: daß Du mit großer Selbstbeherrschung Deine schwierige Lage erträgst. Ich wußte das zwar genau – Nervenzusammenbruch ist nicht Deine Sache – aber es aus dem Munde eines so sachlichen und kühlen Beobachters zu hören, machte mir doch Vergnügen. Und darüber hinaus bedeutete es eine Aufforderung für mich, meine unvergleichlich leichtere Lage ohne Geschrei zu ertragen.

Ich hab’ es ja wirklich viel leichter. Wie muß man manchmal über die Kinder lachen! Hör nur zu: neulich unterhalte ich mich mit meiner neuen 8. Klasse1 (genau Hellas Alter) über Eltern, Großeltern usw. Da erhebt sich plötzlich die Winzigste und ruft, „Frau Dr. Sacke, mein Ur- Ur- Uropa ist vom Krokodil gefressen worden!“ Von dieser sensationellen Mitteilung war ich ganz erschlagen. Heute waren sie bei einer Kollegin unartig gewesen, u. ich mußte ein Strafgericht abhalten. Ich tat das mit der nötigen Verve2, bis 5 heulten. Da sahen sie so entsetzlich komisch aus u. rührend, daß ich beinah losgelacht hätte. Wohltuend ist auch die kordiale3 Anerkennung meiner Größeren, die mir versichern, Englisch sei „knorke“. Meine alte Fünfte kommt öfter, um mir zu versichern, bei mir sei es viel schöner gewesen, was ich mit großem Ernst zurückweise, obwohl es mich doch ein bißchen freut. Denke nicht, Georges, daß ich eingebildet bin. Aber Kinder sind so unbestechliche Richter, daß man ihr Urteil wirklich ernst nehmen darf.

Ich habe noch keine Besuchserlaubnis, sodaß ich vermutlich erst Sonnabend in 8 Tagen komme. Ich erhielt zwar von der Kommandantur des Lagers umgehend Antwort, die aber den Bescheid enthielt, daß Besuchserlaubnis nur von der Geheimen Staatspolizei erteilt wird. Dahin muß ich also schreiben.

Heute sind die Korrekturbogen Deiner Rezension eingelaufen. Ich sehe sie gleich durch.

Ich schicke Dir auf alle Fälle 15 M. Ärgere Dich nicht darüber, Dickkopf. Ich brauche sie nicht, und Du mußt Deine Gesundheit erhalten

Deine Marusja.

Karte von Rosemarie

Lieber Georg,

nun habe ich alle Tage vergeblich auf eine Nachricht von Dir gewartet. Sicher herrscht an Deinem neuen Aufenthaltsort eine andere Schreiberlaubnis. Oder bist Du nicht gesund? Du wolltest mir doch schreiben, was ich Dir schicken soll.

Nun, denke nicht, daß ich nicht genau weiß, daß Du mir schreibst, wenn Du kannst. Du weißt ja, was Deine Briefe mir bedeuten. Ich hab’ Dir noch gar nicht gesagt, wie sehr ich mich über den letzten gefreut habe. Du bist natürlich selbst sehr traurig, daß Du noch nicht entlassen wirst. Aber von Deinem eigenen Kummer schreibst Du kein Wort, wie ich es so oft tue. Du denkst nur daran, daß ich traurig sein werde u. versuchst mir die betrübliche Nachricht möglichst sanft beizubringen.

Du sorgst Dich so rührend, wie ich meine Sonntage zubringe. Das brauchst Du aber nicht. Ich habe meist etwas Hübsches vor, u. es liegt nur an mir, wenn ich mich dann doch nicht so recht daran freuen kann, weil du nicht dabei bist.

Ich habe mich übrigens schon nach dem Preis der Sonntagsfahrkarte nach Frankenberg (d(as) i(st) doch Eure Station) erkundigt. Er ist viel niedriger als der Preis der Karte nach Dresden. Da möchte ich, falls ich die Erlaubnis erhalte, Dich nächsten oder übernächsten Sonntag besuchen, wenn es Dir recht ist. Du schüttelst den Kopf über Deine verschwenderische Frau. Aber wenn Du wüßtest, wie sparsam sie sonst ist.

Viele Grüße

D. M.

Brief von Rosemarie

Lieber Georg,

heute habe ich Dein Bücherpaket erhalten u. weiß nun wieder, wohin ich meine Gedanken schicken soll. D. h. ehrlich gestanden weiß ich nicht, wo Frankenberg ist. Aber es klingt nach frischer Luft, der Du hoffentlich teilhaftig wirst. Nach dem militärisch klingenden Absender scheint ja Aussicht darauf zu bestehen. Jetzt hast Du vielleicht auch Gesellschaft, was Dir nach der 5 Monate langen Einzelhaft eine Abwechslung sein wird.

Als ich in Deinem letzten Brief las, daß Du nun wieder nicht nachhause, sondern noch weiter weg kommst, blieb mir mein Herz stehen vor Schreck u. Kummer. Aber dann nahm ich mich schon wieder zusammen. Ich veranstaltete ein wildes Großreinemachen, um unseren Balkon instand zu setzen. Und als alle Fenster blitzten u. der Fußboden glänzte, war mir schon besser. Dann arbeitete ich 3 Stunden für einen Universitätskurs, an dem ich jetzt teilnehme. Und dann hatte ich schließlich die Illusion, daß mir jemand über den Kopf strich u. sagte, daß ich „brav“ gewesen sei. Wenn es aber diesen jemand nicht mehr gäbe, der mir das sagen könnte, fiele ich gleich um u. rührte keine Hand mehr.

Sei nicht böse, daß ich so persönlich denke u. gar nicht sachlich. Gewiß ist mir die Sache wert oder kann mir wert sein auch ohne die Person. Aber jetzt drängt sich nur alles in den Gedanken an Dich zusammen u. alles andere scheint mir nicht so wichtig.

Dein Urteil über „Die Hauptstraße“ hat mich sehr interessiert. Natürlich hast Du recht, daß der Hennicott ein „Kerl“ ist, der was ist u. kann. Er ist ein tüchtiger Spezialist, aber sonst doch ein Banause. Daß die Frau in Deinem Urteil so schlecht wegkommt, tut mir richtig leid. Natürlich leistet sie nichts mit ihren etwas wagen u. phantastischen Plänen, aber so einen Menschen gibt es gar nicht, der die Stumpfheit und Beschränktheit der „Hauptsträßler“ überwinden könnte. Und sie ist doch ein tapferer Kerl, wie sie immer wieder versucht, Sturm zu laufen gegen die Ungeistigkeit ihrer Mitmenschen. Ich weiß aber schon, warum sie Dir nicht gefällt, weil sie ein ausgesprochen ästhetischer Typ ist.

Wenn Frankenberg nicht gar zu weit ist, möchte ich Dich doch mal besuchen. Dir scheinen vielleicht solche Besuche nicht sehr sinnvoll, da man sich nur so kurze Zeit unterhalten kann. Aber mir sind sie doch furchtbar wichtig. Deshalb bitte ich Dich mir zu schreiben, ob eine Möglichkeit besteht, Dich Sonnabend nachm. oder Sonntag zu sehen. Bitte denke daran, daß es jetzt meine einzige Freude ist.

Viele Grüße

Deine Marusja

Warum schreibst du als Absender nicht Dr. Georg Sacke. Was man so ehrlich verdient hat wie Du Deinen Dr. Titel, soll man nicht vergessen. Du weißt übrigens, daß Du Dich jetzt Dr. habil. nennen kannst? (Titel für alle, die Habil. gemacht haben, ganz gleich, ob sie an einer Universität lesen oder nicht.)

Die Briefe von Rosemarie und Georg

In wenigen Tagen starten unser Briefprojekt. Schon jetzt möchten wir auf die Auftaktveranstaltung am 14. Mai 2018, 19:00Uhr in der Volkshochschule Chemnitz hinweisen. An diesem Tag wird Dr. Volker Hölzer die Biografie von Georg und Rosemarie Sacke vorstellen.

Als wir die originalen Briefe im Staatsarchiv Leipzig im vergangenen Jahr in den Händen hielten, waren wir tief beeindruckt und auch sehr bewegt. Wir hoffen, dass wir durch dieses Projekt die Erinnerung an diese beiden Menschen wach halten und so einen persönlichen Zugang zu der Zeit in der die beiden lebten, schaffen können. Lesen Sie in den kommenden Monaten  nach, welche Zweifel, welche Sorgen und welche Hoffnungen beide in den Briefen während der Inhaftierung von Georg Sacke im KZ Sachsenburg miteinander auf nur wenigen Zeilen teilten.