Autor: sb_anna

Brief von Georg

Meine liebe Kleine,

über deinen letzten Brief habe ich mich sehr sehr gefreut. Da sieht man immer wieder, wie du eigentlich bist: eine so liebevolle, so kluge u. energische Frau. Auch habe ich mich gefreut, daß die Kinder mich nicht vergessen haben. Hoffentlich werde ich sie bald wieder sehen. Mit der Vertretung vom Rechtsanwalt hat es keinen Zweck zu sprechen. Ich habe nichts von Rikarda Huch gelesen. Ihr Bild entspricht jedoch dem, was du von ihr geschrieben hast. Ich werde wahrscheinlich nie in Versuchung kommen irgendein ihrer Werke zu lesen. Auf dein literarisches Urteil kann ich ja mich immer verlassen. Jetzt komme ich leider nur sehr wenig zum Lesen. Frage an, ob ich die Bücher aus der Bibliothek noch behalten darf. Bei mit geht die Zeit ziemlich schnell. Jeder Tag ist ein Schritt zu dir.

Dein Georg.

Brief von Rosemarie

Mein lieber Junge,

ich sitze auf der Wiese in der Sonne. Die scheint schön warm auf meine Haut, aber der Wind macht mich gleich wieder kühl, er kommt ganz scharf oben vom Berg herunter. Nun fehlt mir jemand, der faul neben mir auf dem Bauch liegt u. sich aalt. Der Jemand fehlt mir immerzu, u. gerade deshalb ist er in einer Art immer bei mir. Das klingt etwas verzwickt, trifft aber den Tatbestand.

Bis zum 14. Oktober ist es eine lange Zeit. Aber für mich ja so unendlich viel leichter zu ertragen in Freiheit u. Arbeit, als für Dich. Und wiedersehen werden wir uns hoffentlich ehr – worauf ich mich furchtbar freue. Nur Dich ansehen u. hören können erscheint mir jetzt wie ein unwahrscheinliches Geschenk.

Dr. Melzer hat gerade Ferien (bis 15. August). Er kann also im Augenblick in Deiner Sache nichts unternehmen. Deshalb habe ich ihm wegen Deiner Überführung nach Leipzig gar nicht geschrieben. Hoffentlich ist Dir das recht so. Wenn Dr. M. zurück ist, gehe ich natürlich sofort zu ihm, um ihm Deinen Wunsch zu übermitteln. Einen Vertreter scheint Dr. Melzer nicht zu haben. Ich habe an solch einen ev. Vertreter einen Brief wegen der Staatsbürger-Angelegenheit gerichtet, aber bis jetzt keine Antwort erhalten.

Über Deine Grüße haben sich die Kinder sehr gefreut. Beide sprechen so oft von Dir, daß es mich wundert. Sie haben Dich doch selten gesehen. Aber sie haben Dich trotzdem lieb, u. ich liebe sie deshalb womöglich noch mehr. Die Kinder beweisen mir auch, wenn das nötig wäre, Deinen Wert, indem sie so an Dir hängen. Denn ich habe immer wieder beobachtet, daß Kinder die unbestechlichsten u. feinfühligsten Menschenkenner sind.

Ich habe jetzt – leider allein – einen Roman von Ricarda Huch gelesen u. war bitter enttäuscht. Bei der Lektüre merkte ich, daß sich mir ganz unvermerkt bestimmte Grundsätze ausgebildet haben. Ich weiß jetzt ganz genau, was ich für meine Person von einer Dichtung verlange. Die „gehobene“ dichterische Sprache, die die Dinge schön sagen will, ist mir bei einem modernen Dichter meist furchtbar. Das stilistische Ideal der modernen Zeit scheint mir, daß der Dichter nur bestrebt ist, den Ausdruck zu finden, der am genauesten u. vollkommensten das, was er sagen will, ausdrückt. Ob das schön u. gewählt klingt, ist doch gleich. Was den Inhalt einer Dichtung betrifft – einer modernen – kann ich nicht ausstehen, wenn man nichts erfährt vom Beruf des Menschen, seinen Mühen, seinem Alltag. Immer nur von gehobenen Gefühlen zu hören, die sich in einer ganz unwirklichen Welt abspielen, hängt mir zum Halse heraus. Darum hat mich Ricarda Huch so enttäuscht, deren Gestalten auf höchst edle Weise lieben, entsagen, glücklich sind, aber vollkommen schattenhaft u. unwirklich bleiben – ebenso wie ihre Umwelt.

Na, Du wirst sagen, daß ich Dir doch etwas anderes schreiben könnte. Aber ich bin so gewöhnt, dir alles zu sagen, was ich denke u. an Neuem erworben habe, daß ich sogar vergesse, daß ich nur einen Brief in der Woche schreiben darf.

Und nun leb wohl, Du

Deine Frau.

Den nächsten Brief bitte wieder in die Stieglitzstraße. Ich reise hier am 7. 8. ab.

Brief von Georg

Meine liebe Kleine,

es tut mir sehr leid, daß du dich wegen der Staatsangehörigkeitssache so aufgeregt hast. Ich sehe unserer Zukunft in aller Ruhe entgegen. Es hat keinen Zweck irgendwelche Schritte vor der Verhandlung zu unternehmen. Von hier aus wird es auch kaum möglich sein. Deine persönliche Lage darf sich in keiner Weise sich verändern. Meinen letzten Brief hast du hoffentlich erhalten. Du weißt also, daß die Verhandlung im Okt. stattfindet und daß der Rechtsanwalt für meine Überführung nach Leipzig sorgen muß. Ich werde mich dann sehr freuen, meine liebe schlanke Frau sehen zu können. Ich habe jetzt wenig Zeit zum Konzentrieren. Sei deshalb nicht böse, wenn ich mich nur auf das Sachliche beschränke. Du kennst ja mich. Achte auf die neue Anschrift.

Dein Georg.

Brief von Rosemarie

Lieber Georg,

vorgestern haben wir eine sehr schöne Autofahrt nach Oberschlehma gemacht. Dabei sind wir dicht bei der Steinheideler Gegend vorbeigefahren. Darüber war ich ordentlich froh. Immer mußte ich an die glücklichen Tage denken, die wir dort verlebt haben. Weißt Du noch, die schönen Sonnenaufgänge? und die roten Blumen vor dem Fenster? Weißt Du noch, wie wir auf dem Auersberg waren? Ich wollte mich nicht in den Sturm neben Dich auf die Plattform stellen. Heute ginge ich bestimmt mit hinauf.

Neulich habe ich die Briefe wieder gelesen, die Du früher an mich geschrieben hast. Da spürte ich es auch, wie glückliche Tage wir verlebt haben. Und sie kommen auch wieder – wie schwer auch unsere äußeren Lebensumstände werden mögen. Denn wir wollen ja nicht das, was viele andere Menschen Glück nennen. Bloß zusammen sein u. zusammen arbeiten dürfen möchte ich. Ich bin jetzt sehr gesund u. frisch. Ich habe abgenommen u. das ist nur gut. Da gibt es Deinerseits keinen Scheidungsgrund. Ruth – also der behandelnde Arzt – ist mit meiner Gewichtsabnahme sehr einverstanden. Besonders freut sie sich, daß mir ihre Kleider wieder passen. An einer hiesigen Ehe (bei „Gewicht“ fällt mir das ein. Die Frau ist zu dick) sehe ich immer wieder, wie die glücklichsten äußeren Lebensumstände nichts nützen, um eine Ehe u. zwei Menschenleben wertvoll u. glücklich zu machen.

Immer Deine Marusja.

Brief von Georg

Meine liebe Kleine,

neulich habe ich die Mitteilung bekommen, daß die Verhandlung erst am 14. Oktober stattfinden wird. Für den günstigen Ausgang des Prozeßes ist es von großer Bedeutung, daß ich noch vor der Verhandlung mit dem Rechtsanwalt sprechen kann. Ich erwarte deshalb, daß Dr. Melzer für meine baldige Überführung nach Leipzig sorgt. Vielleicht schreibst du ihm einige Zeilen. Ich freue mich sehr, daß du dich in Lobenstein wohl fühlst. Ich bin ganz überrascht, daß deine Schwester eine Grundbesitzerin geworden ist. Ein sichtbarer Fortschritt! Ich hätte mich gefreut, wenn ich den Garten in Ordnung bringen könnte. Ich bin jetzt ein Fachmann. Sei nicht traurig, wenn unsere Wünsche nicht so bald in Erfüllung kommen. Umso größer wird die Freude, wenn ich bei dir erscheinen werde.

Dein Georg.

Grüße Ruth u.Kinder

Brief von Rosemarie

Lieber Junge,

Du, das war ein harter Stoß. Es ist mir unfaßlich, daß Deine Teilnahme an der Quäker-Hilfsaktion so furchtbare Folgen haben soll. Du hast doch versucht, eine nochmalige Prüfung der Entscheidung über Deine Staatsbürgerschaft herbeizuführen? Wie steht es mit der Möglichkeit der Aufenthaltsgenehmigung?

So, wie ich meinen Mann kenne, sorgt er sich viel mehr um das Schicksal seiner Frau als um sein eigenes. Das darf er nicht tun. Sonst werde ich böse. Ich bin ganz vernünftig, jetzt. Z. B. tue ich, was Du mir sagst: ich erhole mich, so gut ich kann, sauge Luft, Sonne, Frische ein, schlafe jetzt wieder, wandere, schwimme. Berg u. Wald u. Wiesen haben schon das Ihre getan, um mich wieder ruhig zu machen. Ich bin vorläufig noch optimistisch. Ich kann es einfach nicht glauben, daß wir aus dem Boden gerissen werden sollen, auf dem wir gewachsen sind. Du so gut wie ich.

Aber eines, Georg, will ich Dir sagen: wir beide haben auch Unverlierbares: Arbeitskraft u. Können u. unsere Freundschaft, die immer fester wird, je mehr wir getrennt sind. Sage doch, ob man damit nicht etwas anfangen kann? Jung u. hoffentlich gesund sind wir doch auch.

Leb wohl heute, lieber Georg. Du mußt wissen, daß ein Mensch immer an dich denkt u. gern möchte, daß Du froh bist, auch wenn es schwer ist.

Ja, Du, lache doch einmal

Deine „Kleine“

Brief von Rosemarie

Lieber, guter Georg,

nun bin ich schon wieder 2 Tage hier. Es gefällt mir doch ganz gut, viel besser, als ich dachte. Ich gehe jeden Tag mit Ruth u. Hella schwimmen. Hella lernt es nämlich jetzt. Es schwimmt sich sehr gut in dem sauberen Koselwasser, viel besser als in der dreckigen Elster in Groitzsch, wohin wir von Rüssen aus gingen. Jetzt brauche ich auch nicht dauernd aufzupassen, daß kein Kind ertrinkt, sich erkältet oder sonst etwas. Das ist ein großer Vorteil.

Ich sitze jetzt vor Ruths Häuschen auf Ruths Grundstück. Es grenzt rechts an Boelsens Garten, liegt auf der gleichen Höhe u. hat denselben schönen Blick. Du entsinnst Dich gewiß noch vom vorigen Jahr daran, wie Boelsens Grundstück liegt. Ruths Häuschen ist ganz primitiv – ein Wohnraum, Balkon u. Garten – aus blanken Tannenbohlen gebaut. Es gefällt mir aber sehr gut. Ich dachte sofort daran, daß wir zwei einmal im Sommer darin wohnen könnten, wenn Ruth es nicht braucht. Das Häuschen ist eigentlich viel mehr für 2 erwachsene Personen geeignet als für sie mit ihren 2 Kindern u. vielem Kram. Sie wohnt ja auch wieder bei Boelsens. Aber es ist natürlich schlecht, Ruth darum zu bitten, ob wir hier wohnen dürfen, wenn man nicht weiß, ob es ihr recht ist.

Ich denke jetzt so oft an voriges Jahr, wie Du mich hier besuchtest mit dem Rad. Diese 2 Tage sind mir in herrlicher Erinnerung. Um so trauriger ist für mich der Gedanke, daß Du dieses Jahr mich nicht besuchen kannst. Aber ich habe immer die Hoffnung, daß, wenn die großen Ferien u. der August vorbei sind, wir uns dann wiedersehen. Meinst Du nicht auch?

Zwischen Rüssen u. Lobenstein war ich 4 Tage ganz allein in unserer Wohnung, um meine Kleider zu waschen, plätten u. um aufzuräumen. Diese Tage waren ganz schrecklich. Ich hatte lauter traurige Gedanken u. fühlte mich entsetzlich einsam. Da sah ich erst, wie gut es für mich ist, meinen Beruf u. meine Familie zu haben. Unter Menschen – besonders unter Kindern – bei der Arbeit wird man immer abgelenkt, trotzdem mich der Gedanke an Dich gar nicht verläßt. Aber allein u. ohne geistige Arbeit wäre ich ganz verdreht geworden. Du bist für mein Leben so furchtbar wichtig, daß ich die Trennung von Dir, und eine so sorgenvolle Trennung gar nicht aushalten könnte, wenn ich nicht noch anderes Wichtiges hätte.

Ich bin sehr froh, daß Du viel singst. Das hilft einem, wenn man betrübt ist.

Wegen des Haares habe ich nicht etwa aus egoistischen Gründen gefragt. Du wirst mir lieb sein, ohne u. mit Haar u. wie Du auch aussehen magst. Das hindert nicht, daß ich Dein Haar sehr gern mag.

Schreibe bitte Deine nächsten beiden Briefe für mich an die Kanzlei Dr. Melzer, Katharinenstraße. Von dort werden mir die Briefe nach hier nachgeschickt.

Alles Gute, mein lieber Junge!
Bist Du mit Deinem Magen in Ordnung.

Deine Rose.

Brief von Georg

Meine liebe Kleine,

Brief, Geld und Paket erhalten. Vielen Dank. Mit dem Gelde komme ich bis zum 1. 8. aus. Unsere Lage hat sich inzwischen insofern kompliziert, als mir die Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Dies betrifft nur mich. Du bleibst nach wie vor Reichsdeutsche. Wenn bei dir irgendwelche Schwierigkeiten eintreten sollten, mußt du sofort Einspruch erheben. Am besten durch den Rechtsanwalt. Über alle weiteren Schritte werden wir uns bei dem, hoffentlich baldigen Wiedersehen einigen können. Es wäre vielleicht zweckmäßig, wenn du an meine Geschwister schreiben könntest. Man wird von dir die Einbürgerungsurkunde verlangen. Du findest sie in meinem Schreibtisch. Mache dir ja keine Sorgen und erhole dich an der frischen Lobensteiner Luft. Ich freue mich sehr über die Erfolge deiner Erziehungskunst.

Dein Georg.

Brief von Rosemarie

Lieber guter Georg,

ich habe Deine beiden letzten Briefe nachgeschickt bekommen u. den vom 11. 7. heute bei meiner Heimkehr aus Rüssen vorgefunden. Ich bin also ohne Sorge um Dich u. danke Dir, daß Du mir immer so gut schreibst. Bitte teile mir doch mit, ob Du die 15 M (etwa vom 2. 7.) u. die Schuhe bekommen hast.

Nun habe ich meine Rüssenzeit hinter mir u. beinah ist es mir leid. Die Gruppe, mit der ich draußen war, war außerordentlich nett zusammengesetzt. Herr Dr. Wenke selbst hat mir gesagt, daß die Kinder sehr diszipliniert u. kameradschaftlich waren. Das will etwas heißen; da ihm die Kinder meist lästig sind. Er hatte übrigens recht: Die Kinder waren sehr kameradschaftlich untereinander: Wo es anging, halfen die Größeren u. Geschickteren den Kleinen, ließen sie überall mitspielen usw. Die Kleinen hatten öfter gehört, daß ich die Großen zu solcher Haltung ermahnt hatte – denn ganz von selbst kommt so etwas auch bei bester Veranlagung der Kinder nicht. Da nahmen es sich die Kleinen denn auch an u. eines Untermittags höre ich einen unsrer Dreikäsehoche zum anderen sagen: „Du, sei jetzt still: Frau Sacke hat gesagt, daß sie schlafen will. Nun störst Du sie u. das ist unkameradschaftlich.“ Auf solche kleinen „Kameraden“ kann ich doch stolz sein.
Mir ist die viele Luft, Sonne, das Baden u. die regelmäßigen Mahlzeiten gut bekommen. Ich bin schon ganz erholt u. die Ruhe in Lobenstein wird für die Nerven gut sein.

Daß Du auch Sport getrieben hast (warum hast?) freut mich sehr. Selbstverständlich bist Du noch jung u. leistungsfähig – ich fühle mich genau so. Du, wir stehen doch ganz am Anfang unseres gemeinsamen Lebens! Vor uns liegt doch eine Zukunft, oder besser in uns, in der festen, unlöslichen Freundschaft, die uns verbindet – umso inniger, je mehr wir räumlich getrennt sind. Auch ich denke ja Tag u. Nacht an Dich. Du darfst niemals darum bitten oder mich daran erinnern. Das mußt Du doch wissen, Junge, daß ich Dich nie vergessen kann, auch nicht auf eine halbe Stunde.

Leb wohl, lieber Georg. Bloß einen Augenblick möchte ich mein Gesicht in Deine lieben Hände legen

Deine Rose.

Schreibe bitte nach Lobenstein, postlagernd. Da hole ich die Post selbst ab. Ich habe niemand Rechtes zum Nachschicken u. will nicht auf Deine Briefe warten müssen.

Brief von Georg

Meine liebe Kleine,

leider scheinst du meine 2 letzten Briefe nicht erhalten zu haben. Vielleicht liegt es aber daran, daß du inzwischen nach Rüssen gefahren bist. Hoffentlich hast du dir keine Gedanken wegen der Schuhe gemacht. Damit hat es keine Eile. Ich freue mich sehr, daß du dich an unsere Unterhaltungen über pädagogischen und andere Probleme erinnerst. Es ist für mich ein Zeichen, daß nach meiner Rückkehr wir uns mindestens ebenso gut verstehen werden wie früher. Die heißen Tage habe ich sehr gut überstanden. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Daß du an mich gedacht hast. Hoffentlich geschieht das auch bei Regenwetter. Wir singen sehr oft über eine Lore, die „ein Gedanke bei Tag und Nacht“ ist. Bei mir handelt (es) sich um eine Rose.

Dein Georg.