Brief von Rosemarie

Lieber Georg,

eben habe ich zu meiner Freude erfahren, daß ich Dir schreiben darf.

Guter, lieber Junge, wieviel Geduld mußt Du haben! Immer wieder versuche ich mich in Deine Lage zu versetzen. Dann kann ich nicht anders als Deine Festigkeit und Ruhe bewundern, mit der Du die lange Zeit ertragen hast und noch erträgst. Du findest sogar noch Kraft, mich zu trösten. Immer wieder nehme ich Deinen letzten Brief in meine Hände und lese ihn von neuem.

Lieber Georg, fühlst Du es auch so wie ich, daß dieses Jahr der Trennung – dieses scheinbar so leere, fruchtlose Jahr – unsere Ehe auf wunderbare Weise gefestigt und vertieft hat? Ich lebe trotz der Trennung so intensiv mit Dir, wie zu der Zeit, als Du bei mir warst. Ja, beinah intensiver. Denn alles Alltägliche und Unwesentliche unserer Beziehung fällt weg und die eigentlichen Züge Deines Wesens stehen mir ganz klar vor Augen. So lebe ich mit Dir, und immer wieder vergleiche ich Dich mit den Menschen um mich. Und ich komme dabei zu dem Resultat, daß es keinen gibt wie Dich. Der eine ist klug, geistig aktiv, grundanständig, aber in unerträglicher Weise bewußt u. reflektiert, wie es nur intellektuelle Frauen sein können. Im Umgang mit solchen Menschen erfaßt mich einfach ein Durst nach Deiner Unmittelbarkeit. Ein anderer Mensch ist weich, liebenswürdig, aber man steht immer auf dem schwankenden Boden der Charakterlosigkeit. Wie sehne ich mich unter solchen Menschen nach Deiner Wahrhaftigkeit u. Konsequenz. Ach, und dann die Sorte der guten Menschen, mit denen man aber kein vernünftiges Gespräch führen kann! Was gäbe ich darum, mit Dir über meine Arbeit, Bücher, Menschen sprechen zu dürfen! Entsinnst Du Dich an unsere Abendgespräche vor dem Einschlafen? Manchmal kann ich es gar nicht für wahr halten, daß ich einen Kameraden wie Dich gehabt habe.

Hoffentlich ist die Verhandlung bald. Man muß sehr dankbar sein, daß sie aufgeschoben wurde und Du nunmehr die Möglichkeit zu ausgiebiger Verständigung hast. Aber es wäre doch schrecklich, wenn es nun noch sehr lange dauerte!
Denke Dir, am vergangenen Mittwoch war Herr Schulratshelfer Fritsche bei mir. Meine 6. Klasse arbeitete frisch darauf los – ich habe ganz kluge Kerlchen drin. Die Hefte usw. waren auch in Ordnung, so daß alles gut abging. Du kannst Dir denken, wie froh ich war!
Nun viele, viele Grüße! Ich schaue so oft meine Hände an, die Du noch vor gar nicht langer Zeit in Deinen hieltest. Aber man sieht es ihnen gar nicht an.

Immer Deine Frau.