Brief von Rosemarie

Lieber Junge ,

eigentlich hätte ich alles andere zu tun als an Dich zu schreiben. Korrigieren, lernen, Zensuren schreiben, Pflichtbriefe – aber alles das reizt mich im Augenblick garnicht. So rede ich mir denn ein, daß ich vielleicht heute, an Mutters Geburtstag, keine Zeit zum Schreiben haben werde und schreibe gleich an Dich.
Dein Brief ist doch noch gekommen, Montag früh, und er war so nett, daß ich gleich getröstet war. Ich freue mich so, Dich bald zu sehn. Es wird auch bestimmt Zeit sein, mit Melzer alles zu besprechen, da er sich nun doch entschlossen hat, keine Verteidigungsschrift fertigzustellen. Es ist wohl auch nicht gebräuchlich, nur hatte Herr Pfarrer Reinmuth ihn dazu bestimmen wollen.
Klara ist nun schon fast 3 Wochen bei mir. Sie ist mir einerseits eine große Hilfe, andrerseits brauche ich aber meine ganze Selbstbeherrschung, um geduldig zu bleiben. So reißt sie mir jede Arbeit, die in ihr „Ressort“ fällt, aus der Hand – aus purer Hilfsbereitschaft. Am liebsten möchte sie mich mästen wie eine Martinigans und all ihren abergläubischen Regeln – was man essen u. nicht essen tun u. nicht tun darf, will sie mich unterwerfen. (So aß sie z. B. nicht Bückling u. Obst, weil man davon einen „Blutsturz“ bekäme).
Sie ist das seltsamste Gemisch von rührender Güte, Selbstlosigkeit, absoluter Borniertheit u. Eigensinn, das man sich nur denken kann. Auf die Dauer würde ich verrückt mit ihr – oder ganz schlecht. Schon der sakrale Eifer, mit dem sie das Kochen, Reinmachen, Waschen betreibt, bringt mich zur Verzweiflung! In der Zeitung liest sie nur die Annoncen.
Na, nun genug von Klara. Junge, denkst Du manchmal daran, wie fein es sein wird, wenn du wieder zuhaus bist! Wenn Du doch am 14. entlassen würdest! Da habe ich gerade Ferien! bis zum 21. X. Ich hätte dann wirklich Zeit für Dich, was doch während meiner Schulzeit nicht der Fall ist. – Deine Schutzhaft ist doch sicher mit dem 14. beendet. Mir wurde seinerzeit in Dresden mitgeteilt, daß Du vor dem 14. nicht entlassen werden könntest. Daraus ziehe ich den Schluß, daß Du eben nach dem 14. herauskommst. Vielleicht kannst Du Dir bei Deiner Abreise aus Sachsenburg darüber Klarheit verschaffen.
Gib, wenn möglich, gleich Nachricht, wenn du nach Leipzig kommst, damit Melzer Dich gleich aufsuchen kann.

Immer Deine M.