Brief von Rosemarie

Lieber Georg,

offenbar hast Du auch diese Woche keine Schreiberlaubnis bekommen, denn Dein sonntäglicher Brief ist ausgeblieben. Na, Junge, was machst Du, daß Du nicht schreiben darfst? Oder bist Du krank? Ich kann es beinah nicht glauben, nachdem ich Dich so frisch und voller Spannkraft gefunden habe. Hoffentlich kriege ich nächsten Sonntag Post! Ich habe die kleinen, wirklich manchmal ein bissel trockenen Briefe doch ganz schrecklich gern. Ein Satz, ein Wort ist doch fast in jedem, sodaß man es wie einen Druck Deiner festen, guten Hände spürt.

Dieser Tage fiel mir einmal ein Gespräch ein, daß wir in unserer Verlobungszeit führten. Ich schwärmte davon, wie ich an Deinen wissenschaftlichen Arbeiten teilnehmen wollte, für Dich u. mit Dir Facharbeiten lesen usf. Ich war sehr enttäuscht, daß diese Pläne gar nicht Deinen Beifall fanden, Du vielmehr wolltest, daß ich meine von Dir unabhängige geistige Existenz, Sonderinteressen u. –aufgaben behalten sollte. Wie recht Du hattest, sehe ich jetzt. Was sollte jetzt aus mir werden, wenn ich nicht meinem Beruf, meine Geige, meine eigenen Freunde hätte? So treibe ich z. B. öfters Musik – gestern spielte ich einen prachtvollen Bach – ein Violinkonzert. Dann je eine Sonate von Händel, Schumann u. Grieg. Es war ein richtiges Programm u. leidlich durchgeführt.

Eines wollte ich Dir schon oft schreiben – etwas, was ich immer wieder mit Stolz u. Freude erlebe. Alle Menschen, die Dich kennen, sprechen stets mit größter Achtung u. Liebe von Dir – trotz alledem, was mit Dir im letzten Jahr geschehen ist. Ich bin der festen Überzeugung, daß auch die Menschen, mit denen Du jetzt zu tun hast u. noch zu tun haben wirst, in Dir den sauberen u. anständigen Charakter erkennen werden.

Sehr erheiternd ist Friedas, Mutters Mädchens, Vorliebe für Dich. (Eure Bekanntschaft besteht vermutlich darin, daß sie Dir ein paar Mal die Tür aufgemacht hat.) Du bist entschieden ihr „Typ“, denn sie hat versichert, sie würde Dich gleich heiraten, wenn Du nicht schon „weg“ wärst. (d. h. verheiratet) Über Dein Fernbleiben zerbricht sie sich gemeinsam mit den Kindern den Kopf. Klaus fragt am getreulichsten nach Dir. Neulich sagt er abends beim Gute-Nacht-sagen ganz zutraulich: „Du Roli, Du hast Dich wohl mit Onkel Georg geschieden?“ Ich versicherte ihm aber das Gegenteil.

Georg, sorge – wenn möglich – dafür, daß Dr. Melzer sobald wie möglich erfährt, wen Du ev. als Zeugen vorgeladen haben willst. Frl. Reinmuth hat, wie mir Dr. Melzer mitteilte, um die Vorladung ihres Vaters u. Frl. Ferkels nachgesucht.

Bleib gesund, lieber, guter Junge!

Deine Rose.