Brief von Rosemarie vom Sommer 1935

Lieber Junge,

bis jetzt habe ich für unsere Schulleiterin Hefte korrigiert, deren Mutter sehr krank ist. Ich bin sehr müde, aber Du, mein Junge, sollst noch Deinen Brief haben.

Die Ferien habe ich ganz nützlich verbracht. Zuerst mit meiner Schwester die Abrechnung gemacht. Dann war ich jeden Tag beim Zahnarzt. In der Wohnung habe ich auch ein bißchen gewirtschaftet, nun ist alles schmuck für Dich. Ach, wie oft habe ich schon alles für Dich schön gemacht! Und immer vergeblich. Aber diesmal habe ich große Hoffnung, daß wir uns endlich bald wiedersehen. Daran ist vor allem Deine Karte aus Chemnitz schuld, die ich immer u. immer wieder lese. Es spricht daraus solch freudige Gewissheit, daß wir uns bald sehen.
Heute dachte ich, daß ich’s trotz allen Kummers gut habe – viel, viel besser als andere Frauen. Unsere Schulleiterin ist doch äußerlich sehr glücklich, aber im Grunde furchtbar einsam. Sie hat keinen Menschen, der ihr Kamerad sein könnte. Ich aber bin nie einsam, auch wenn Du noch so weit fort bist. Ich weiß, daß wir innerlich so fest verbunden sind, daß ich mich nie allein fühlen kann. Mein lieber Kamerad, mein Junge, was müßte ich Dir allein dankbar sein, daß ich das Gefühl keinen Menschen zu haben, der einen völlig versteht, nicht kenne.

Für unser neues Zusammenleben habe ich viele gute Vorsätze gefaßt. Alles das, was ich vor unserer Trennung noch nicht gut gemacht habe, will ich jetzt recht machen. Nicht müde und faul sein, nicht streiten, nicht rücksichtslos sein. Ich weiß mit aller Bestimmtheit, daß ich meine Vorsätze durchführen werde. Die Kraft dazu kommt mir dazu aus einer Quelle, die hoffentlich nicht versiegen wird. Diese Quelle ist die lange, qualvolle Zeit unsrer Trennung. Diese Zeit hat mir gezeigt, was Du mir menschlich wert bist.

Schreibe bald Deiner M