Brief von Rosemarie

Mein lieber Junge,

ich sitze auf der Wiese in der Sonne. Die scheint schön warm auf meine Haut, aber der Wind macht mich gleich wieder kühl, er kommt ganz scharf oben vom Berg herunter. Nun fehlt mir jemand, der faul neben mir auf dem Bauch liegt u. sich aalt. Der Jemand fehlt mir immerzu, u. gerade deshalb ist er in einer Art immer bei mir. Das klingt etwas verzwickt, trifft aber den Tatbestand.

Bis zum 14. Oktober ist es eine lange Zeit. Aber für mich ja so unendlich viel leichter zu ertragen in Freiheit u. Arbeit, als für Dich. Und wiedersehen werden wir uns hoffentlich ehr – worauf ich mich furchtbar freue. Nur Dich ansehen u. hören können erscheint mir jetzt wie ein unwahrscheinliches Geschenk.

Dr. Melzer hat gerade Ferien (bis 15. August). Er kann also im Augenblick in Deiner Sache nichts unternehmen. Deshalb habe ich ihm wegen Deiner Überführung nach Leipzig gar nicht geschrieben. Hoffentlich ist Dir das recht so. Wenn Dr. M. zurück ist, gehe ich natürlich sofort zu ihm, um ihm Deinen Wunsch zu übermitteln. Einen Vertreter scheint Dr. Melzer nicht zu haben. Ich habe an solch einen ev. Vertreter einen Brief wegen der Staatsbürger-Angelegenheit gerichtet, aber bis jetzt keine Antwort erhalten.

Über Deine Grüße haben sich die Kinder sehr gefreut. Beide sprechen so oft von Dir, daß es mich wundert. Sie haben Dich doch selten gesehen. Aber sie haben Dich trotzdem lieb, u. ich liebe sie deshalb womöglich noch mehr. Die Kinder beweisen mir auch, wenn das nötig wäre, Deinen Wert, indem sie so an Dir hängen. Denn ich habe immer wieder beobachtet, daß Kinder die unbestechlichsten u. feinfühligsten Menschenkenner sind.

Ich habe jetzt – leider allein – einen Roman von Ricarda Huch gelesen u. war bitter enttäuscht. Bei der Lektüre merkte ich, daß sich mir ganz unvermerkt bestimmte Grundsätze ausgebildet haben. Ich weiß jetzt ganz genau, was ich für meine Person von einer Dichtung verlange. Die „gehobene“ dichterische Sprache, die die Dinge schön sagen will, ist mir bei einem modernen Dichter meist furchtbar. Das stilistische Ideal der modernen Zeit scheint mir, daß der Dichter nur bestrebt ist, den Ausdruck zu finden, der am genauesten u. vollkommensten das, was er sagen will, ausdrückt. Ob das schön u. gewählt klingt, ist doch gleich. Was den Inhalt einer Dichtung betrifft – einer modernen – kann ich nicht ausstehen, wenn man nichts erfährt vom Beruf des Menschen, seinen Mühen, seinem Alltag. Immer nur von gehobenen Gefühlen zu hören, die sich in einer ganz unwirklichen Welt abspielen, hängt mir zum Halse heraus. Darum hat mich Ricarda Huch so enttäuscht, deren Gestalten auf höchst edle Weise lieben, entsagen, glücklich sind, aber vollkommen schattenhaft u. unwirklich bleiben – ebenso wie ihre Umwelt.

Na, Du wirst sagen, daß ich Dir doch etwas anderes schreiben könnte. Aber ich bin so gewöhnt, dir alles zu sagen, was ich denke u. an Neuem erworben habe, daß ich sogar vergesse, daß ich nur einen Brief in der Woche schreiben darf.

Und nun leb wohl, Du

Deine Frau.

Den nächsten Brief bitte wieder in die Stieglitzstraße. Ich reise hier am 7. 8. ab.