Brief von Rosemarie

Lieber, guter Junge,

jetzt bin ich endlich wieder in meinem „Zuhause“, nachdem mich die Mutter vier Tage bei sich gepflegt hat. Da merke ich erst so recht, daß ich nirgends anders leben mag als in den Räumen u. bei den Dingen , die Dir u. mir gehören. Alle die vielen hellen, frohen Tage wohnen da mit drin, daß ich gar nicht allein bin. Es gibt schon wieder neue großmütterliche Petunien auf dem Balkon und die Weinranken habe ich heute fein sorgfältig um das Fenster gezogen, wobei ich sehr erfreut feststellte, daß Du voriges Jahr schon Draht gezogen hast, den ich gleich benutzen konnte. So ist der Balkon sommerlich wie voriges Jahr u. wartet bloß darauf, daß wir darin wohnen werden. Hoffentlich kommen bloß die Spatzen diesen Sommer nicht, um unter dem Wein zu schlafen und zu stinken.

Sage, bist Du unter die Romantiker gegangen? Du weißt, sie liebten es, Fragmente zu schreiben. Deine beiden letzten Briefe sind solche Fragmente. Oder vielleicht hast Du einen zweiten Bogen vollgeschrieben? Das ist offenbar nicht erlaubt. Also sieh zu, daß Deine nächsten Briefe mit dem traditionellen Georg schließen.
Ich bin sehr froh, daß Du mir versprichst, Rücksicht auf mich zu nehmen, wenn Du wieder zuhause bist.
Hat man Dir irgendwelche Mitteilung über die Dauer Deiner Schutzhaft gemacht?

Du schreibst im letzten Brief, daß wir uns wegen des Besuchsverbotes „kurze Zeit“ nicht sehen werden. An diesen Ausdruck klammere ich mich förmlich, obwohl Du vielleicht gar nichts gemeint hat, als Du ihn brauchtest.

Du schreibst mir, daß ich die Zeit meiner Einsamkeit gut ausnützen soll. Das sage ich mir selbst. Aber glaubst Du, um jeden Zeitraum so auszunützen, wie es sein sollte, bin ich manchmal viel zu müde. Ich sitze u. grübele zu viel u. denke an die Zeit, als wir beisammen sein durften. Aber immerhin versuche ich das zu bekämpfen. Meine Schularbeit muß ich ja tun, u. zwar so gut wie möglich. Dann halte ich auf Ordnung in unserer Wohnung, mir geben die Zimmer, wenn sie wohlaufgeräumt sind, ein Gefühl der Ruhe – das kostet auch Zeit. Übrigens geige ich viel u. beschäftige mich neuerdings mit pädagogischer Theorie. Bist Du nun zufrieden?

In den Sommerferien will Mutter mich einladen. Es ist sehr gut von ihr. Ich freue mich aber nicht sehr.
2. VI. Heute habe ich Deinen lieben Brief bekommen. So kurz er auch ist, bringt er mir Freude und Kraft. Denn es spricht lauter Sorge u. Teilnahme für mich daraus. Daß Du noch immer an einen anderen Menschen denken kannst, wo Du doch sicher selbst oft sehr traurig bist! – Denke Dir, wenn ich allein Rad fahre oder spazieren gehe, unterhalte ich mich oft leise mit Dir. Ich könnte es sonst gar nicht aushalten. Ein halbes Jahr sind wir jetzt getrennt. Nun, wir werden uns auch einmal wiedersehen.

Deine Rosel.