Brief von Rosemarie

Mein lieber Georg,

ich liege im Bett, um einen geradezu fürchterlichen Schnupfen auszukurieren. Es geht mir schon viel besser, morgen werde ich aufstehen. Du darfst Dich also nicht sorgen. Ich werde auch sehr gut versorgt. Trotz ihrer 71 Jahre kommt die Mutter jeden Tag herüber u. pusselt so klein und grau und rührend bei mir herum. Trotzdem habe ich manchmal ein ganz unvernünftiges Verlangen, daß Du Deine festen, warmen Hände auf meine Stirn legen möchtest. Da hätte ich gleich keine Kopfschmerzen mehr.

Besuchen darf ich Dich leider nicht. – Schreibe mir, ob Du die Briefe, die ich am Sonnabend schreibe, zum Posttag bekommst. – M. E. mußt Du unbedingt ein Gesuch machen, daß ich Dir Obst schicken darf. Wenn Du von dem dortigen Arzt (sicher gibt es einen im Lager) kein entsprechendes Zeugnis bekommst, will ich Dir gleich eines schicken.

Wir haben jetzt an der Schule eine junge Kollegin, die meine alte Klasse bekommen hat. Sie kommt vorläufig nicht zustande mit ihrer Aufgabe – das merken wir alle. Ich war der Meinung, daß man davon nichts der Schulleiterin sagen dürfte. Frau Wenke ist so klug, daß sie von selbst merkt, wenn die junge Kollegin auf die Dauer sich nicht zurechtfindet. Und vielleicht ist sie gar nicht unfähig, muß sich bloß ans Unterrichten gewöhnen. Aber es hat sich doch eine Kollegin gefunden, die unkameradschaftlich genug war, Frau Wenke alles zu erzählen. (Vielleicht hat sie es nur wegen der Kinder getan.) Seitdem ist das arme Mädel ganz mutlos. Jetzt habe ich ihr mal gesagt, daß man Unterrichten eben auch erst lernen muß, u. daß es fast allen im Anfang schwer fällt. Ich habe ihr aus dem „reichen Schatz meiner pädagogischen Erfahrung“ Ratschläge gegeben. Worauf sie sagte, ich hätte ja schon zwei Jahre Praxis, sonst würde sie sich von einer so viel jüngeren Kollegin kaum Rats erholen. Ich habe das aber als Kompliment aufgefasst: Sie muß mich für sehr jung halten – tatsächlich ist sie nur 1 ½ Jahre älter.

Ich bin immer wieder so zufrieden, daß ich in einer festgefügten Gemeinschaft arbeiten kann. Es gibt immer wieder neue Aufgaben charakterlicher oder intellektueller Art, es gibt die Fülle der verschiedenen fruchtbaren Beziehungen zu Kindern, Eltern, Kolleginnen.- Denke Dir nur, eben war die Schulleiterin bei mir u. hat mich gefragt, ob ich meine alte Klasse übernehmen will. Sie hat ganz ausgiebig bei der jungen Lehrerein hospitiert u. sagt, sie kann es nicht. Es wird für mich viel Arbeit sein – aber es muß gehen. Die Kollegin tut mir furchtbar leid, aber die Eltern haben sich schon beschwert.

Viele Grüße

Deine Rosel.